Den Berg erklimmen

Eine Bergwanderung ist eines der bildlichsten Darstellungen, die manchmal eine gewisse Lebenssituation beschreiben kann.

Was benötigt man für eine gute Bergwanderung? Gutes Schuhwerk, bequeme Kleidung, einen Rucksack mit Trinken und Essen, Motivation, gute Kondition, und den Blick für die Schönheit der Natur, aber vor allem den Blick auf sich.

Die Wege sind oft steinig und uneben, man spürt, dass man sich sehr konzentrieren muss, damit man den Halt nicht verliert. Andere Wege sind weich und man fühlt sich gut getragen. Es ist eine Erholung für die Füße, den Körper und das innere Gleichgewicht. Und natürlich ist der Weg nach oben auch steil, ja manches mal sehr beschwerlich. Kleine Pausen zur Stärkung sind notwendig, um das Ziel erreichen zu können.

So ist es mit dem Leben auch. Da saß ich nun in der Klinik. Meine Seele sollte gesunden. Es fühlte sich wie ein steiler Berg an. Ich fühlte mich noch nicht in der Lage, einen Berg zu erklimmen. Keine Kraftreserven für Steigungen und festen Halt hatte ich auch nicht unter den Füßen. Und dennoch zog es mich ständig raus in die Natur. Jetzt hatte ich doch Zeit für solche Dinge! Wenn nicht jetzt, wann dann?

Das Einatmen von frischer Luft, die Schönheit der Natur, ohne einen Druck, ja es kam mir fast schon fremd vor. Ich war mir sicher, dass ich auf diesen Berg wollte, von dem alle sprachen und der so nah lag. Um es vorweg zu nehmen- ich bin ihn zweimal gegangen. Die erste Wanderung war zeitlich zu spät, so dass wir für den Rückweg die Seilbahn nehmen mussten und somit das Gipfelkreuz verwehrt blieb. Und genau deshalb musste ich für mich ein zweites Mal dort rauf. Ich wollte unbedingt bis oben kommen. Der erste Weg rauf, stand dem zweiten Weg aber in nichts nach. Es war sogar die erfrischendere Erfahrung, weil man noch unbedarf vorwärts ging.

Sinnbildlich ist es eins zu eins genau das, was ich für mich tun musste. Der Alltag hatte mich eingenommen und ich musste gesund werden. Der Weg war mehr als steil und steinig. Es war nicht damit getan, die frische Luft einzuatmen und die schöne Natur zu genießen. Mancher Baum musste erst nochmal gefällt werden, um zu sehen, wo die Spuren in den Jahresringen ihre Kerbe hinterlassen hatte. Mancher Stein lag im Weg und ließ sich nicht mal so eben mit dem Fuß zur Seite kicken, damit der Weg gerade und sichtbar wurde. Manchmal wollte ich Zuviel auf einmal. Sich mit dem eigenen Leben auseinandersetzen, bedeutet harte Arbeit und der Weg zum Ziel ist steil. Es fließen Tränen, man zweifelt, man ist erschöpft und möchte schlafen. Aber irgendwas zog mich immer wieder dorthin, das Gipfelkreuz zu erreichen. Was war es, dass mich so dorthin zog?

Ich wollte mein altes Leben wieder haben. Die Leichtigkeit mit der ich sonst alles gemeistert hatte. Was man über einen längeren Zeitraum verloren hat, lässt sich nicht in weniger Zeit wieder aufleben. Jedoch war der Klinikaufenthalt ein sicherer Boden unter den Füßen. Ich hatte das große Glück mit tollen Menschen dort zu sein, gutes Bodenpersonal an meiner Seite zu haben und alles was man benötigte um der Seele eine kleine Grundlage zu bieten, war ebenso vorhanden. So konnte ich mich ausschließlich auf mich und meinen Weg konzentrieren.

Vielleicht lag es daran, dass ich genau deswegen am Anfang zu schnell zu viel wollte. Da war die leichte Abfahrt mit der Seilbahn doch genau das Richtige um mich auf den Boden der Tatsachen, sanft und doch leicht schaukelig , zurückzubringen.

Der Tag sollte kommen, um ein zweites Mal dort hinaufzugehen. Die letzte Etappe zum Gipfelkreuz zog sich und war sehr anstrengend. Felsig und von Steingeröll umgeben. Immer wieder dachte man, dass man es doch bald geschafft haben müsste, aber es nahm irgendwie kein Ende. Doch endlich war ein Ende in Sicht. Ein letzter kleiner Fels lag vor mir. Es war ein ganz schmaler Pfad, der um den Felsen herum führte. Ein dickes Drahtseil sollte der sichere Halt sein. Einen Moment durchatmen, gut festhalten und los. Das Drahtseil ließ Spielraum übrig und brachte mich zum wanken. Es war mir nicht möglich, die letzten Meter hinauf zu gehen. Da saß ich nun in einer kleinen Kuhle, umgeben von Felswänden, ein Flugzeug flog ganz nah an mir vorbei und machte die schon erreichte Höhe sehr deutlich. Ich weinte. Ich weinte, weil ich das Ziel vor Augen hatte und nicht erreichte.

Es war ein entscheidender Satz einer Freundin, der mir am Abend den inneren Frieden mit dieser Situation wiedergab. Sie sagte: „ Gabi, vielleicht müssen wir nicht immer bis ganz nach oben, um ein Ziel erreicht zu haben!“ Sie hatte so recht. Ich hatte schon so viel Wegstrecke hinter mir liegen, um meiner Seele wieder ein Gleichgewicht zu geben. Dieser Weg war genau so wie der Weg zum Gipfel, steinig, holprig, mal sanft. Mit festem Boden unter den Füßen, und auch mal ein nachgiebiges Drahtseil, aber immer mit Ausblick auf bessere Zeiten und einer gesunden Seele.

Wollt ihr die Schönheit der Natur mit einem guten Auge sehen, gebt euch die Chance, in euch reinzuhören. Sind dort Unebenheiten oder das Auge erblindet, lasst euch helfen. Seid egoistisch und denkt an euch, denn niemand kann euch das geben, was eure Seele benötigt, wenn ihr es nicht in Angriff nehmt. Das Leben ist nicht immer geradeaus und weich. Das Leben kann ein steiler Berg sein, und auch wenn wir oben angekommen sind, müssen wir wieder hinunter. Wenn ich all meine Kraftreserven genutzt habe um oben anzukommen, kann auch ein Abstieg erschwerlich werden.

Ich habe den Berg erklommen und meiner Seele wieder ruhiges Fahrwasser ermöglicht. Dies bedeutet aber auch, es jetzt aufrechtzuerhalten. Ich bin dankbar, den Weg gegangen zu sein. Dieses Gefühl in dem Moment alles richtig gemacht zu haben, tut so gut. Mach es mir nach! Ich wünsche dir dazu Mut, gutes Schuhwerk, Ausdauer und gute Kondition, Motivation, einen gut gefüllten Rucksack und liebe Menschen, die dich begleiten.

Hinterlasse einen Kommentar